Text: Kathrin Stärk, Fotos: Heilbronner Stimme/Andreas Veigel & Stefanie Wahl, Deutscher Ruderverband
»Das Wichtigste ist, möglichst wenig zu bremsen«
»Herzlich willkommen unser Goldbärchen Carina – Rio 2016« steht auf einem leicht verwaschenen Plakat an einer unscheinbaren Hofmauer in Babstadt. Aus dem Kraichgaudorf mit gerade mal 1.200 Einwohnern kommt die erfolgreichste Sportlerin der Region.
Den ersten großen Erfolg feierte sie 2008 mit dem Weltmeistertitel im Einer bei den A-Juniorinnen. 2010 schaffte sie den Sprung ins A-Team und wurde erstmals für den Doppel-Vierer nominiert, der bei den Europameisterschaften den zweiten und bei den Weltmeisterschaften den dritten Platz belegte. Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro holte sie Gold im Vierer und erhielt von Bundespräsident Gauck das Silberne Lorbeerblatt.
Im Ruderschuppen der Heilbronner Ruderschwaben in der Badstraße begann ihre sportliche Laufbahn. Vorher hatte sie Fußball gespielt, ist geritten, hat sich an Sportschießen und Budokan probiert. Bis der damalige Landestrainer im Rudern, Marco Haaf, als Referendar an ihr Gymnasium in Bad Wimpfen kam und die 15-jährige Carina rekrutierte. »Er hat gesagt, dass ich ins Trainingslager nach Tunesien darf, wenn ich bis zum Ende der Sommerferien rudern kann. Ich durfte dann im Herbst mit, war aber definitiv unterqualifiziert«, sagt sie schmunzelnd im Originalteile-Podcast vom Januar 2020 im Gespräch mit dem Heilbronner Journalisten und Podcaster Robert Mucha.
Podcast-Gast: Carina Bär im Originalteile-Podcast
Für die spätere Olympiasiegerin war schon zu Schulzeiten klar, dass sie »einen ordentlichen Beruf lernen« möchte, sagt sie 2015 in einem Spot der Ruhr-Universität Bochum. Da gab es nie ein »Entweder-oder«. Der Grundstein für eine »duale Karriere« war also gelegt. Neben dem Sport hatte sie andere ehrgeizige Ziele: ein gutes Abi, um Medizin studieren zu können. Glücklicherweise hat das geklappt, fügt sie hinzu und schließt dieses für sie typische »Hehe« an.
Direkt nach dem Abi ging sie 2009 nach Dortmund, einem von drei deutschen Olympiastützpunkten. Die benachbarte Ruhruniversität Bochum ermöglichte ihre ganz eigene duale Karriere. In den beiden Semestern vor den Olympischen Spielen war sie wegen der vielen Trainingslager im Ausland kaum an der Uni, der Sport stand im Vordergrund.
Deshalb ist sie auch später in ihr »Praktisches Jahr« gestartet. In der Vorbereitung auf Rio hatte sie immer medizinische Lehrbücher dabei, machte sich Gedanken über ein Promotionsthema, wie sie den Ruhrnachrichten 2016 verriet. Mittlerweile ist sie approbierte Ärztin. Sie könnte sich später eine eigene Praxis vorstellen, wie sie im Podcast erzählt: »Man kann und muss sich selbst organisieren und hat einen langfristigeren Bezug zu den Patienten.«
Am Neckar: Carina Bär und ihr Heimatgewässer
Trotz der vielen Jahre im Ruhrpott und internationaler Erfolge ist Carina Bär – mittlerweile Ärztin an der Uniklinik Heidelberg in der Abteilung für Innere Medizin – ein Mädchen vom Land geblieben: »Das Projekt Stadtkind ist misslungen, ich mag’s lieber auf dem Dorf.« Zudem hatte sie immer den Rückhalt und die Erdung durch ihre Familie. Obwohl die hochgewachsene, schlanke junge Frau sehr überlegt und ernst über ihren Sport oder den Berufsalltag spricht, blitzen ihre dunklen Augen immer wieder schelmisch und ihr Heimatdialekt scheint durch.
Nach jahrelangem täglichen Training genießt sie es, auch mal ein freies Wochenende zu haben. Wobei sie noch einige Jahre damit beschäftigt sein wird, abzutrainieren: »Ich mache schon noch gern Sport, manchmal fehlt mir der regelmäßige Takt des Trainings«, sagt sie. Sie versucht, täglich zu Laufen, Krafttraining zu machen oder zum Ruderergo zu fahren – »das ist ein super Ganzkörpertraining.«
Der Alltag als Sportlerin bedeutet viel Organisation, Kommunikation, eiserne Disziplin und oft auch todmüde zu sein. »Aber mit Glück und Hingabe macht es einen zu einem starken und unabhängigen Menschen.« Das scheint in ihrem Fall gelungen. 2019 hat sie mit dem Leistungssport aufgehört, zum Abschluss nahm sie noch an der traditionsreichsten Regatta überhaupt teil: »Ich wollte schon immer nach Henley.« Die königliche Ruder-Veranstaltung findet jedes Jahr in England auf der Themse statt. Wegen der geringen Breite der Regattastrecke können jeweils nur zwei Boote gegeneinander antreten. Carina Bär schied im Halbfinale aus. Nicht schlimm, findet sie: »So konnten wir abends feiern.«
Auch mal fünfe gerade sein lassen gehört zu den neuen Freiheiten, die sie genießt. Und sich noch stärker engagieren zu können für Nachhaltigkeit und Klimaschutz zum Beispiel. Sie macht ihren Joghurt selbst, hat Kartoffeln und Äpfel im Garten, kauft möglichst im Unverpackt-Laden ein und findet die Fridays for Future-Bewegung wichtig. »Ich bin auch ein paar Mal freitags mit auf die Straßen gegangen«, sagt sie.
Dr. Bär: Die Olympiasiegerin absolvierte während ihrer sportlichen Laufbahn erfolgreich ihr Medizinstudium
Durch ihren Umzug ist sie wieder näher bei ihrer Familie im Kraichgau: »Wenn ich zu Hause bin, helfe ich auch beim Melken.« Schließlich stehen rund 70 Milchkühe im elterlichen Stall. Und dann ist da noch ihr zwei Jahre älterer Bruder Mathias, der durch Sauerstoffmangel bei der Geburt im Rollstuhl sitzt und viel Pflege benötigt. »Er kann nicht laufen, nicht selbstständig essen und nicht sprechen, wie es die meisten anderen Leute tun. Dafür kann er sich mit Lauten und Mimik gut mitteilen, wenn er etwas lustig findet, ihm etwas gut schmeckt oder wenn ihm langweilig ist«, schreibt sie in einem Blogbeitrag für Paidi’s World. Deshalb unterstützt sie auch die Familienherberge Lebensweg in Illingen-Schützingen, die sich um kranke Kinder und deren Familien kümmert, sie vom Alltag entlastet und ihnen eine kleine Verschnaufpause ermöglicht.
Wie wichtig Pausen sind, kennt sie noch aus ihrer Zeit als Athletin. Gerade das letzte Drittel eines Rennens ist extrem anstrengend, da schmerzt jeder einzelne Muskel. »Für einen guten Vierer macht das Zusammenspiel sehr viel aus, der Rhythmus ist mit das Entscheidendste. Wenn es läuft, nehmen wir im Boot es als Flow wahr, dann hat man das Gefühl, das Boot schwebt regelrecht über das Wasser. Als Zuschauer erkennt man es daran, dass es leicht aussieht«, sagt sie schon 2015 in einem Uni-Spot. Diesen Flow scheint sie auch außerhalb des Wassers gefunden zu haben. An Land gilt schließlich das Gleiche wie beim Rudern: »Das Wichtigste ist, möglichst wenig zu bremsen.«