Text: Kathrin Stärk, Fotos: DLR, ESA, NASA
Unser Mann im All
Der Künzelsauer Alexander Gerst ist seit 2009 Mitglied des ESA-Astronautenkorps. Am 28. Mai 2014 flog er an Bord einer russischen Sojus-Rakete zum ersten Mal zur Internationalen Raumstation ISS. Bei der halbjährigen Mission Blue Dot führte er über 100 wissenschaftliche Experimente durch. Vier Jahre später startete am 6. Juni 2018 seine zweite Mission mit dem Namen Horizons und in deren Rahmen Alexander Gerst bis zum 20. Dezember 2018 an Bord der ISS lebte und arbeitete. Neben seiner Rolle als Wissenschaftsastronaut übernahm er ab dem 3. Oktober 2018 bis zum Ende seiner Mission das Kommando der Raumstation. Er war nach Frank De Winne der zweite Europäer, der diese Führungsaufgabe übernahm. Nach Thomas Reiter und Hans Schlegel ist Alexander Gerst der dritte deutsche Astronaut auf der ISS und insgesamt der elfte Deutsche im All.
Alexander Gerst wurde am 3. Mai 1976 im hohenlohischen Künzelsau geboren. Er schloss 1995 das Technische Gymnasium in Öhringen bei Heilbronn mit dem Abitur ab. Schon während seiner Schulzeit engagierte er sich ehrenamtlich als Leiter der Pfadfinder, in der Jugendfeuerwehr und als Rettungsschwimmer. Nach der Schule und dem darauf folgenden Zivildienst reiste Gerst ein Jahr lang um die Welt. Anschließend studierte er in Karlsruhe und Wellington (Neuseeland) Geophysik und Geowissenschaften. Der Rest ist Geschichte und führte Gerst ins Weltall. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt schrieb jedoch richtig: »Um eine solche Entdeckungsreise wirklich zu vollenden, muss man an deren Ausgangsort zurückkehren – frei nach dem amerikanischen Literaten T.S. Eliot. Im Falle Alexander Gersts liegt dieser Ursprungsort im hohenlohischen Künzelsau. Am 18. Mai 2019 bereitete die Stadt Künzelsau ihrem weit gereisten Ehrenbürger einen großen Empfang. Rund 3.000 Menschen begrüßten den Astronauten mit einer »Welcome back Party« und lauschten gespannt den Erzählungen von seiner Zeit im All. Damit die Künzelsauer weiterhin die Sterne genau im Blick behalten können, dafür wird in naher Zukunft eine neue Sternwarte sorgen. Der Spatenstich für die »ESA-Astronaut Alexander Gerst Sternwarte« erfolgte gemeinsam mit den Ehrengästen ebenfalls am 18. Mai 2019.
Vor 60 Jahren, am 12. April 1961, flog Juri Gagarin als erster Mensch in den Weltraum und umrundete einmal die Erde. Seither waren insgesamt 567 Menschen im All – darunter Alexander Gerst, einer von elf Deutschen. Gerst, liebevoll auch »Astro-Alex« genannt, wurde in Künzelsau geboren und ist Geophysiker und Astronaut bei der Europäischen Raumfahrtagentur ESA. Von Mai bis November 2014 und von Juni bis Dezember 2018 verbrachte er insgesamt 362 Tage auf der Internationalen Raumstation ISS. Auf engstem Raum mit wenig anderen Personen zusammen.
Seit seiner letzten Weltraum-Mission ist der Hype um Astro-Alex abgeebbt, doch im Coronajahr 2020 tauchte der 44-Jährige wieder öfters in den Medien auf. Denn Gerst hat Erfahrung damit, wie es ist, monatelang auf engstem Raum zu leben. Er weiß, wie es sich anfühlt, wenn man nicht einfach zum Italiener oder ins Theater gehen kann. Und so gab er in seiner gewohnt sympathischen, stets rationalen Art Tipps für den Umgang mit dem Leben im Lockdown.
Um dabei zu sein, wenn Dr. Alexander Gerst in seiner Heimatstadt nach seiner zweiten Mission auf der Internationalen Raumstation ISS empfangen wird, sind hochrangige Gäste aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft am 18. Mai 2019 nach Künzelsau gekommen.
In einem Interview mit dem Tagesspiegel (Interview) berichtet Gerst, wie die Besatzung der ISS mit Spannungen umgegangen ist und wie ihm diese Erfahrungen auch privat nutzen: »Wir waren auch mal unterschiedlicher Meinung. Aber wir haben es nie in Streit ausarten lassen. Wenn man von Anfang an den Standpunkt des anderen als Bereicherung ansieht, kann man auch über kontroverse Dinge reden.« Übertragen aufs Private sei es wichtig, aufeinander aufzupassen. »Zum Beispiel sollte man sein Geschirr nicht einfach stehen lassen und wenn man es stehen lässt, dann sagt man, dass es einem leidtut.«
Entscheidend sei gute Kommunikation, – egal, ob mit den Kolleg*innen oder innerhalb der Familie. Auch Gerst arbeitet in Corona-Zeiten überwiegend von zu Hause aus und hat sich eine To-do-Liste angelegt, auf der unter anderem viele private Projekte stehen, die für mehrere Wochen reichten, berichtet er. Unglücklich gewählt findet er den Begriff »Social Distancing«: »Wir sind zwar körperlich voneinander getrennt, aber umso wichtiger ist es, dass man dies auffängt. Zum Beispiel, indem man häufig telefoniert, ob nun mit Freunden oder Familienmitgliedern. Man weiß nicht, wie lange diese Situation anhält, deswegen sollte man sich mit ihr einrichten und schauen, dass man das Beste daraus macht. Und wenn es bedeutet, die Terrasse neu zu streichen.«
Als ESA-Astronaut war Gerst der erste deutsche Kommandant auf der Raumstation ISS. Bei der Expedition 57 im Jahr 2018 gab es einige außerplanmäßige Ereignisse: Ein Teil der Crew musste nach einem Fehlstart notlanden und in der Rückkehr-Kapsel war ein Leck, durch das wertvolle Luft entwich. Für die Crew waren das herausfordernde Momente: »Jede Vorfreude auf unsere neuen Kollegen löste sich in Luft auf. Es war unklar, wie lange sich unsere Mission verlängern würde.«
Alexander Gerst in Arbeitskleidung
Er als Kommandant habe damals versucht, Unsicherheiten aufzufangen und nach seinen Crewmitgliedern zu schauen. Struktur gaben gemeinsame Mittag- und Abendessen. Oder Überraschungen wie eine Halloweenparty, samstags war Filmabend. Sozial, empathisch – so hat Gerst auch die Herzen der Erdenbewohner*innen erobert. Seine guten »Social Skills«, wie man das heutzutage nennt, hat er vielleicht schon während seines Geophysik-Studiums in Karlsruhe und Neuseeland ausgebildet: Zehn Jahre lang lebte er in Wohngemeinschaften. »Das hat mich mit Sicherheit sehr gut vorbereitet für das Leben im All – und für das auf der Erde«, sagt er.
Was gute Vorbereitung angeht, könnte Gerst sicherlich allerhand berichten (Zum Video). Schließlich wird man nicht über Nacht Astronaut*in. Fast fünf Jahre trainierte er für seinen Aufenthalt auf der Internationalen Raumstation. Mit dem ersten Flug zur ISS im Jahr 2014 erfüllte sich für ihn ein Kindheitstraum: »Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat mich das schon immer fasziniert, Astronaut zu werden. Ich war schon immer neugierig und hatte das Glück, dass ich Eltern und Großeltern hatte, die nie versucht haben, mir diese Neugier auszutreiben.«
Diese kindliche Faszination befeuerten nicht zuletzt sein Großvater und dessen Amateurfunkstation. Von da aus nahm der sechsjährige Alexander erstmals Kontakt ins Weltall auf, indem er in ein Mikrofon sprach: Seine Worte wurden in Form von Radiowellen zum Mond gesandt, dort an der Oberfläche reflektiert und wenig später von der Antenne der Station wieder empfangen. Sekunden später ertönten seine Worte leicht verrauscht aus einem Lautsprecher. »Meine Worte und damit ein Teil von mir waren auf dem Mond gewesen«, erinnert sich Gerst, »das war unglaublich für mich.«
Der Traum vom Astronauten-Leben war also geweckt und wurde über die Jahre auch durch Science-Fiction intensiviert: Als Kind guckte Gerst »Captain Future« und die Space Night des Bayerischen Rundfunks entführte ihn »eher Tage als Stunden« ins All. Als er dann am 28. Mai 2014 an Bord einer Sojus-Rakete vom Kosmodrom Baikonur in Kasachstan ins All startet, überträgt die BR-Space Night live aus dem DLR-Kontrollzentrum in Oberpfaffenhofen (Start ins All). Als Flugingenieur verbringt er sechs Monate auf der ISS – mit Experimenten, Körpertraining und der Wartung der ISS. Und er unternimmt rund 360 Kilometer über uns einen Weltraumspaziergang.
Lieblingsplatz: Von der Cupola aus betrachtet Alexander Gerst die Erde, wann immer er Zeit dafür hat – und knipst ein- drucksvolle Fotos, etwa von Wäldern, Wüsten und Küsten
Hätte es mit dem Job bei der ESA nicht geklappt, hätte Gerst wohl in Alaska Vulkane erkundet. Mit seiner Dissertation über die Eruptionsdynamik des antarktischen Vulkans Mount Erebus promovierte er im Mai 2010. Als Vulkanforscher war er bereits in der Antarktis und Neuseeland unterwegs. Seine Bewerbung für das Astronautenkorps gab er ab, während er an seiner Doktorarbeit schrieb – und stach mehr als 8.400 Konkurrenten aus. Sicherlich nicht nur wegen seiner fachlichen Kompetenz – auch beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt gilt Gerst als Teamarbeiter und Kommunikator, der gut mit Menschen umgehen kann. Egal, welchen Alters.
Das unterscheibt so auch die Raumfahrtingenieurin Berti Meisinger, Frau im Hintergrund und quasi die rechte Hand von Alexander Gerst. Als Mission Director koordinierte sie Gersts Aufgaben auf der ISS. Kurz vor seiner Rückkehr im Dezember 2018 gestand sie in einem Radio-Interview: »Ich würd das nie machen. Des is für mi nix.« Im Hinblick auf die durchaus schwierigen Momente, die Gerst als Kommandant zu meistern hatte, sagte sie: »Erstaunlich, dass er auch bei dem Arbeitspensum immer so gute Laune hat.«
Vielleicht lag das am Rückhalt, aber vielleicht auch an seiner ungewöhnlichen Begleiterin bei seiner zweiten ISS-Mission (Zur Sendung mit …): der Maus. Für die Kindersendung filmte Gerst seinen Alltag und beantwortete Zuschauerfragen. Trotz seiner knapp bemessenen Freizeit auf der Raumstation. Überhaupt betrachtet Gerst Experimente für Kinder und Jugendliche als eine wichtige Investition: »Wenn wir ein führendes Forschungs- und Technologieland bleiben wollen, müssen wir auf das Gehirnkapital unserer nächsten Generation setzen.« Und so erklärte er kindgerecht, warum man im All die Zahnpasta schlucken darf, alles mit Klettverschluss gesichert werden muss und verrät, dass das Pflaumenmus fast so lecker schmeckt wie bei seiner Oma.
Alexander Gerst hat während seiner Horizons-Mission im Jahr 2018 eine Nachricht in deutscher Sprache an seine zukünftigen Enkelkinder vom Cupola-Observatorium der Internationalen Raumstation aufgezeichnet.
Was den Astronauten sonst so kredenzt wird, beleuchtete eine Sendung von BR Wissen (https://www.br.de/wissen/iss-speiseplan-space-food-astro-alex-gerst-100.html). Denn die Nahrung kommt eben nicht (nur) aus Tuben. Neben 16 Standardmenüs für die sechs Crew-Mitglieder durfte sich auch Gerst sechs Menüs aussuchen. Obwohl er seit Jahren in der Welt und im All unterwegs ist, zeigt sich beim Speiseplan seine Herkunft: Käsespätzle, Maultaschen und Linseneintopf hatte er bestellt. Wie im Flugzeug gilt auch in der Schwerelosigkeit: Vieles schmeckt anders als auf der Erde. Deshalb muss auch kräftiger gewürzt werden, damit es im All mundet.
Von Gersts Offenheit und Bereitschaft, auch Privates zu teilen, profitierten aber nicht nur »Sendung mit der Maus«-Fans. In dem Bildband »166 Tage im All« gibt Gerst tiefe Einblicke in seine Faszination für die Raumfahrt und in seine Arbeit als Astronaut. Er verrät beispielsweise, was er in seinen Koffer packte, – übrigens nur 1,5 Kilogramm. Mehr Handgepäck wird den Raumfahrern nicht zugestanden. Neben einer Plüschtierversion der Maus packte er unter anderem einen Kristall vom antarktischen Vulkan Mount Erebus ein, den er für seine Doktorarbeit untersucht hatte.
Als Lektüre hatte er »Die Astronauten« von Stanislaw Lem und »Der Tag zieht den Jahrhundertweg« von Tschingis Aitmatow dabei. Und fast schon symbolisch: Den Teelöffel einer Freundin, die sich jahrelang vorgenommen hatte, ein marokkanisches Café zu eröffnen – und schließlich ihren Lebenstraum verwirklichte. So wie Gerst.
Sein Ziel war es, wie er im Vorfeld sagte, »da oben« so viele Eindrücke wie möglich aufzusaugen: »Ich will diese Perspektive von außen gewinnen. Und ich glaube, dass ich dann als ein anderer Mensch auf die Erde zurückkehre.« Via Twitter postete @astro_alex während seines zweiten Aufenthalts auf der ISS im Jahr 2018 unermüdlich Fotos und Gedanken. Umweltschutz war ein wichtiges Thema, denn von der Raumstation aus sah er deutlich die verdorrten Landschaften in Europa im Sommer 2018 oder die verheerenden Waldbrände in Kalifornien.
Am bekanntesten dürfte seine Videobotschaft an künftige Generationen sein, die er am 19. Dezember 2018, kurz vor seiner Rückkehr zur Erde verfasste. In der fünfminütigen »Nachricht an meine Enkelkinder« beschreibt Gerst eindrücklich, was die Menschheit aus seiner Sicht ändern muss, damit die Erde ein lebenswerter Planet bleibt. Seit seiner sicheren Landung in der kasachischen Steppe am 20. Dezember 2018 nahm der 44-Jährige an verschiedenen Forschungsprojekten der ESA teil, etwa als »Cavenaut« in einem Höhlungsforschungsprojekt oder dem ANSMET-Lager in der Antarktis. In drei Monaten hat er dort insgesamt 346 Asteroiden gesammelt, Bruchstücke größerer Himmelskörper. »Es geht letztlich darum, Methoden zu entwickeln, dass größere Asteroiden später nicht Kurs auf die Erde nehmen und dieser gefährlich werden. Dafür sind wir auf die nächste Generation von Ingenieuren angewiesen, auf ihre Kreativität.«
Seit April 2021 kann man sich übrigens bewerben: Zum ersten Mal seit elf Jahren sucht die Europäische Weltraumorganisation ESA neue Astronautinnen und Astronauten. Sie werden Seite an Seite mit den bisherigen ESA-Astronauten arbeiten. Vielleicht auch mit Astro-Alex.