Die Giganten im Kleinformat: Wenn ausgestorbene Käfer zu Kunstwerken werden

Von Robert Mucha, Foto: Levon Biss

In einem alten Speicher am Neckar eröffnet die experimenta eine Galerie für Wesen, die man sonst übersieht oder zertrampelt. Der britische Fotograf Levon Biss hat Insekten so groß aufgenommen wie Plakatwände – und dabei eine Schönheit entdeckt, die uns zum Nachdenken über das bringen soll, was wir gerade verlieren.

Es ist ein eigenartiger Gedanke: Während in Heilbronns modernen Ausstellungsräumen experimenta-Besucher über Roboter und Hologramme staunen, öffnet auf der anderen Seite der historische Hagenbucher-Speicher seine Türen für Geschöpfe, die kleiner sind als ein Fingernagel. Das historische Gebäude verwandelt sich ab dem 30. Mai in eine Pop-up-Galerie für Insekten.

„Extinct & Endangered – Insekten in Gefahr“ heißt die Foto-Ausstellung des britischen Künstlers Levon Biss, die ursprünglich im American Museum of Natural History in New York zu sehen war. Was sie nach Heilbronn bringt, sind Bilder von einer Präzision und Schönheit, die das menschliche Auge normalerweise nie zu sehen bekommt: Insekten in 300-facher Vergrößerung, vom nordamerikanischen Monarchfalter bis zur Lord-Howe-Insel-Stabschrecke, die lange als ausgestorben galt.

Die Technik hinter den Bildern ist so aufwendig wie das Ergebnis beeindruckend: Für jede Nahaufnahme benötigte Biss etwa vier Wochen, denn jedes Motiv besteht aus bis zu 10.000 mit Spezialobjektiven aufgenommenen Einzelbildern. Es ist eine Geduldsarbeit, die an die akribische Forschung von Entomologen erinnert – nur dass hier nicht die Wissenschaft, sondern die Kunst das Werkzeug ist.

„Diese Ausstellung hat zwei Seiten“, sagt Levon Biss über sein Werk. „Da ist zum einen die Schönheit dieser Geschöpfe. Aber es gibt auch eine düstere Seite, wenn man diese Insekten bestaunt und zu verstehen beginnt, dass sie bereits ausgestorben sind oder kurz davorstehen.“ Es ist diese Ambivalenz, die seine Fotografien so eindringlich macht: Schönheit und Trauer in einem Bild vereint.

Die Bilder zeigen Insekten, wie man sie nie gesehen hat: markante Muster und filigrane Fühler, pelzige oder gepanzerte Oberflächen, dichtbehaart oder durchscheinend. Was in der Natur oft übersehen wird, entpuppt sich unter Biss‘ Mikroskop als spektakuläre Architektur. Ein Käferflügel wird zum Glasfenster einer gotischen Kathedrale, ein Schmetterlingsfühler zur filigranen Skulptur.

Die Wahl des Hagenbucher-Speichers als Ausstellungsort ist mehr als nur pragmatisch. Das historische Gebäude, das früher Getreide beherbergte, wird nun zu einem Mausoleum für Arten, die es nicht mehr gibt oder bald nicht mehr geben wird. Es ist eine Ironie der Geschichte: Während der Speicher einst die Früchte beherbergte, die ohne Insekten nicht existieren könnten, zeigt er heute die Porträts ihrer Bestäuber.

Die Zahlen, die die experimenta nennt, sind ernüchternd: In Deutschland sind rund 70 Prozent der heimischen Tierwelt Insekten. Mehr als eine Million Insektenarten sind beschrieben worden, viele gelten noch als unentdeckt. Sie tragen maßgeblich zur Bestäubung von Blütenpflanzen und Getreidearten bei und sind eine wichtige Nahrungsquelle für andere Tiere. Doch ihr weltweiter Rückgang bedroht ganze Ökosysteme.

„Ich hoffe, die Menschen gehen mit der Erkenntnis aus dieser Ausstellung, dass diese Tiere zu schön und wichtig für uns sind, um verloren zu gehen“, sagt Biss. Es ist ein Appell, der durch die extreme Detailgenauigkeit seiner Fotos verstärkt wird. Eigenschaften und Merkmale werden sichtbar, die sonst dem menschlichen Auge verborgen bleiben – eine Welt im Kleinformat, die plötzlich riesig erscheint.

Die Ausstellung ist während der Öffnungszeiten der experimenta kostenfrei zugänglich: Montag bis Freitag von 9 bis 17 Uhr sowie am Wochenende und an Feiertagen von 10 bis 18 Uhr. Eine bewusste Entscheidung, die zeigt, dass Kunstbetrachtung und Naturschutz keine Luxusgüter sein sollen, sondern für alle zugänglich.

Was im Hagenbucher-Speicher zu sehen ist, ist mehr als eine Foto-Ausstellung. Es ist ein Memento Mori für das 21. Jahrhundert – eine Erinnerung daran, dass Schönheit und Vergänglichkeit oft Hand in Hand gehen. Während nebenan in der experimenta die Zukunft der Technik erforscht wird, erzählen hier Bilder von einer Natur, die bereits Vergangenheit ist oder es bald sein könnte.

Es ist eine ungewöhnliche Konstellation: Ein historischer Speicher, der zur Galerie wird, Insekten, die zu Kunstwerken werden, und ein Science Center, das zeigt, dass Wissenschaft und Kunst die gleiche Sprache sprechen können – die Sprache des Staunens. In Heilbronn, wo Tradition und Innovation täglich aufeinandertreffen, passt diese Ausstellung perfekt ins Bild: eine Stadt, die versteht, dass man die Zukunft nur gestalten kann, wenn man die Vergangenheit nicht vergisst.

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