Theodor Heuss, 1. Bundespräsident – Ein Bohemian und Liberaler Demokrat

Text: Kathrin Stärk, Foto: Archiv Heilbronner Stimme

Hüter der Verfassung mit Hang zu produktiver Behaglichkeit

Bis heute erinnert Brackenheim gerne daran, der Geburtsort von Theodor Heuss zu sein, der einen unverzichtbaren Beitrag zur demokratischen Entwicklung Deutschlands leistete. Das Städtchen liegt idyllisch zwischen Weinbergen und ist stolz auf seinen großen Sohn, – den deutschen Journalisten, Publizisten, Politikwissenschaftler und über einen Zeitraum von fast 60 Jahren liberalen Politiker, der nach ihrer Gründung 1948 knapp ein Jahr als Vorsitzender der FDP fungierte. Im Parlamentarischen Rat gestaltete er das Grundgesetz entscheidend mit und war von 1949 bis 1959 der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Ein Staatsmann, der zeitlebens nie die Verbindung zu seiner Heimat abreißen ließ.

Als Theodor Heuss am 31. Januar 1884 als jüngster Sohn des Straßenbaumeisters Louis Heussund seine Ehefrau Elisabeth in Brackenheim geboren wurde, konnte keiner voraussagen, welch wichtige Rolle der Bub aus dem Zabergäu einmal für die junge Bundesrepublik spielen sollte. Sein Leben ließe sich entlang einiger wesentlicher Etappen deutscher Geschichte erzählen: von der Monarchie über die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur bis hin zur Bundesrepublik Deutschland, deren erster Präsident er am 12. September 1949 wurde. 

Die Familie bewohnte 1884 den ersten Stock des sogenannten Meehschen Hauses in unmittelbarer Nähe des Brackenheimer Schlosses, das Theodor Heuss als Ort seiner Kinderspiele in lebendiger Erinnerung behielt. Dem Abriss dieses Gebäudes, – an dessen Stelle eine neue Kelter treten sollte – stimmte Heuss später, als er längst Staatsoberhaupt war, ausdrücklich zu: „Reißt das alte Haus nur ab, eine Stätte zur Pflege des Weines erscheint mir wichtiger als romantischer Ruhm auf Vorrat.“  

Seine Beziehung zu Brackenheim war stets geprägt von liebevoller Wärme. Heuss spricht immer von „seinem“ Brackenheim – sei es in seinen Jugenderinnerungen „Vorspiele des Lebens“, als schriftstellerisches Pseudonym „Thomas Brackheim“ während der Nazi-Zeit oder bei den vielen Besuchen in seiner Heimatstadt. Diese Liebe wird auch erwidert: Bereits am 31. Januar 1968 wurde im historischen Obertorhaus ihm zu Ehren eine kommunale Gedächtnisstätte eingeweiht, seit 2000 betreibt die Stadt Brackenheim dort das Theodor Heuss Museum. (www.theodor-heuss-museum.de) 

Sein erster Berufswunsch keimte dort auf, wo er im Alter von fünf Jahren sein erstes Geld verdiente, 18 Pfennige. „Sie wanderten dann zu Bossaller, wo es Brocken, Zuckerzeug, zu kaufen gab. Ich hielt den klangvollen Namen für eine Berufsbezeichnung, da dieses Geschäft der einzige Laden solcher Art war, und antwortete damals auf die Frage nach meinen künftigen Berufsabsichten, ich wolle Bossaller werden“, schreibt Heuss in seinen Jugenderinnerungen.

Die Familie zog 1890 nach Heilbronn, wo Theodor die Volksschule und danach die humanistische Karlsschule besuchte. Schon in der Schulzeit begeisterte er sich für die politischen und sozialen Gedanken Friedrich Naumanns; seinen ersten Artikel schrieb er für dessen Wochenzeitschrift „Die Hilfe“. Diese jugendliche Begeisterung wurde bald zur aufrichtigen Verehrung, auch Nachahmung, zum Beispiel im Stil der Rede, und später zu einer festen Freundschaft, wie Eberhard Pikart über Heuss in Neue Deutsche Biografie 9 (1972) schreibt [Link].

Nach dem Abitur 1902 ging er zum Studieren nach München. Er war sich unsicher, welche Richtung er einschlagen sollte, war jedoch schon als Student journalistisch tätig. Nationalökonomisch-politische Fächer interessierten ihn ebenso wie kunsthistorisch-literarische. „Die künstlerisch-literarischen Neigungen wurden äußerlich durch ein leicht bohèmehaftesAuftreten unterstrichen und führten zu einer schnellen, beinahe spielerischen Aneignung des literarischen, historischen und kulturellen Bildungsgutes der Zeit; auch übte sich in frühen Gedichten, Romanversuchen und ausgedehnten Korrespondenzen die Feder des späteren Publizisten“, beschreibt Pikart.

Zwei Jahre studierte Heuss auch in Berlin und arbeitete in der Redaktion der „Hilfe“. Dort begegnete er Elly Knapp, die er 1908 in Straßburg heiratete. Für seine Promotion kehrte Heussjedoch nach München zurück und veröffentlichte 1905 seine Dissertation „Der Weinbau und der Weingärtnerstand in Heilbronn“. Der Wein spielte immer wieder eine Rolle in Heuss’ Reden und allerlei Bonmots, die von ihm überliefert sind. Eine Tonaufnahme von einem Besuch in Brackenheim dokumentiert einen berühmten Vierzeiler: „Trunken müssen wir alle sein! Jugend ist Trunkenheit ohne Wein; trinkt sich das Alter wieder zu Jugend. So ist es wundervolle Tugend.“ (Link)

In den folgenden Jahren arbeitet Heuss eng mit Naumann zusammen und ist überwiegend journalistisch-publizistisch tätig. 1912 kehrt er aus beruflichen und politischen Gründen nach Heilbronn zurück, wo er Chefredakteur der angesehenen demokratischen „Neckar-Zeitung“ wird. Wegen einer leichten Schulterverletzung musste er, der für den Militärdienst ohnehin nicht viel übrig hatte, weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg kämpfen. Zwischen 1914 und 1918 schreibt er regelmäßig Leitartikel zum Kriegs- und innenpolitischen Geschehen, bevor er nach Kriegsende wieder nach Berlin geht und die Schriftleitung der Zeitschrift „Deutsche Politik, Wochenschrift für Welt- und Kulturpolitik“ übernimmt.

Nach dem 9.11.1918 unterstützt er seinen Freund Naumann bei der Gründung der DeutschenDemokratischen Partei (DDP) und tut sich mit Vorträgen und Aufsätzen zur Verfassungsfrage hervor. Im Werk der Weimarer Nationalversammlung sieht er eine späte partielle Verwirklichung der Forderungen von 1848. Heuss kandidiert 1919 vergeblich für die verfassunggebendeNationalversammlung, war 1920-24 in Berlin Studienleiter in der Deutschen Hochschule für Politik, und in der Kommunalpolitik aktiv. 1924 zog er für die DDP in den Reichstag.

Mit einem Buch über Adolf Hitler, das 1932 veröffentlicht wurde, zog Heuss den Zorn der Nationalsozialisten auf sich. Im Jahr darauf verlor er sein Reichstagsmandat und seine Lehrtätigkeit an der Hochschule für Politik, konnte jedoch – zum Teil unter einem Pseudonym – bis Kriegsende weiter publizieren.

Als kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder Parteien in Deutschland zugelassen wurden, gründeten sich auch bürgerlich-liberale Vereinigungen, die sich in ihrer Tradition im Wesentlichen auf die Deutsche Demokratische Partei, die Deutsche Volkspartei und die württembergische Demokratische Volkspartei in der Zeit der Weimarer Republik beriefen. Heuss wurde 1946 zum Vorsitzenden der „Demokratischen Volkspartei in der US-Zone“ gewählt und engagierte sich in der 1947 gegründeten „Demokratischen Partei Deutschlands“. Er wirkte bei der Bildung des Bundesverbands der liberalen westdeutschen Parteien mit, der sich im Dezember 1948 unter dem Namen Freie Demokratische Partei (FDP) gründete. Heuss wurde der erste Bundesvorsitzende der FDP und 1949 zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt.

Als Mitglied des Parlamentarischen Rats hatte er großen Anteil an der Formulierung des Grundgesetzes, was er sich bisweilen auch zunutze machte, wie etwa als ihn Scheinwerfer im ersten Bundespräsidentendomizil auf der Viktorshöhe in Bad Godesberg vom Schlaf abhielten, wie Hanna Frielinghaus-Heuss in ihren „Heuss-Anekdoten“ (Esslingen 1964, S. 18f.) beschreibt: „Macht doch diese saudummen Scheinwerfer aus! Ich habe am Grundgesetz mitgearbeitet und weiß, dass man auch als Bundespräsident ein Recht darauf hat, in Dunkelheit zu schlafen!” 1950 zog er in die Villa Hammerschmidt ein.

Als erster Bundespräsident hatte er die außenpolitische Aufgabe, das schlechte Ansehen derDeutschen in der Weltöffentlichkeit zu verbessern. Er bemühte sich, das Demokratieverständnis der Deutschen zu fördern, und verstand den Bundespräsidenten als Hüter der Verfassung neben dem Bundesverfassungsgericht. Seine wohl bekanntesten innenpolitischen Handlungen waren die Bestimmung der Nationalhymne und die Neugründung des Bundesverdienstordens sowie des Ordens Pour le Mérite, wie Pikart in der Deutschen Biografie hervorhebt: „Auch versuchte er, die gefährliche Distanz zwischen dem kulturellen und dem politischen Leben, die die Weimarer Zeit noch weitgehend gekennzeichnet hatte, aufzuheben und jene Tradition des geistigen Deutschland wiederherzustellen, die durch den Nationalsozialismus unterbrochen worden war […]“.

Doch Heuss war auch ein geselliger Mensch, der schon mal bei einem abendlichen Empfang die protokollarische Gepflogenheit, dass niemand vor dem Bundespräsidenten den Raum verlassen darf, mit den Worten außer Kraft setzte: „Meine Herren, der Bundespräsident geht – der Heuss bleibt hocke!” Durch vielerlei Initiativen setzte er sich für eine Wiederannäherung der Emigration an die wissenschaftlich und kulturell führenden Kreise der Bundesrepublik ein. Er wurde zu einem amtlichen Förderer der demokratischen Kräfte des neuen Staates und brachte Demokratie und Kultur einander nahe. Auch die noch heute bestehende Künstlerhilfe geht auf Heuss zurück.

Heuss sah sich als „Hüter der Verfassung“, wie eine Rundfunkansprache vom 10.12.1952 überschrieben war, in der er betonte: „Ich pflege meine Entschlüsse aus eigener Entscheidung zu treffen – diese nimmt mir vor der Geschichte und vor meinem Gewissen niemand ab.” 1952 hielt er eine viel beachtete Gedenkrede im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen, in der er die Behauptung, man habe nichts von den NS-Verbrechen an den Juden gewusst, zurückwies und alle Deutschen aufforderte, sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen.

„Den Deutschen erschien er bald als idealer Bundespräsident, sodass man 1959 eine Grundgesetzänderung erwog, um ihm eine dritte Amtszeit zu ermöglichen“, heißt es auf der offiziellen Website des Bundespräsidenten (Link). Heuss lehnte dies jedoch ab. In seiner Abschiedsrede als amtierender Präsident der Bundesrepublik Deutschland im September 1959 vergleicht er sein Leben mit dem Flüsschen seiner Geburtsstadt, der Zaber.

Trotz seiner Verbundenheit zu Brackenheim zog nach Stuttgart und widmete sich der Niederschrift seiner Memoiren und anderen Publikationen. Ob er sich dann dem hingab, was er als „produktive Behaglichkeit“ bezeichnete? Für Heuss hieß das: „Ich trinke abends eine Flasche Rotspon und rauche eine, zwei oder drei Zigarren dazu.“ Gesundheitlich ging es ihm in seinem letzten Lebensjahr schlecht. In einem Brief äußert er großes Bedauern, wegen seiner schweren Krankheit nicht nochmals die vertrauten Freunde und Orte besuchen zu können. Heuss starb am 12. Dezember 1963 an den Folgen einer Beinamputation.