Der Künstler Anselm Reyle – Nach am Wasser gebaut

Text: Kathrin Stärk, Fotos: Ulrike Kugler/Heilbronner Stimme & PR

Nah am Wasser gebaut

Ein Blick auf seine Website genügt: Von wegen Stillstand – allein im Jahr 2020 sind mehr als ein Dutzend Ausstellungen gelistet, eine davon sogar in China. Nach Kopenhagen, Wien und Seoul werden seine Arbeiten ab Juli in der Daimler Art Collection in Berlin zu sehen sein. Er, er galt lange als Superstar der Kunstwelt, als Punk, als Enfant terrible, der den wohlsituierten Kunstbetrieb auf- und durchrüttelte – die Morgenpost betitelte ihn als »Heavy-Metal-Star der Kunst«. Anselm Reyle, gebürtiger Tübinger, aufgewachsen in Heilbronn, dessen kometenhafte Karriere 1997 in Berlin begann, ist einer der renommiertesten und bekanntesten Künstler der Gegenwart. 2014 zog er die Reißleine und sich eine Weile aus dem Kunstbetrieb zurück.

Seine Werke erzielen noch immer hohe sechsstellige Verkaufssummen, obwohl es nach einer Kunstpause etwas ruhiger wurde um Reyle. Doch spulen wir zurück ins beschauliche Baden-Württemberg, wo Anselm Reyle behütet in bildungsbürgerlichem Umfeld in Heilbronn aufwuchs: Der Vater war Arzt, seine Mutter Malerin, beide geprägt von den politischen Idealen der 68er. Er und sein jüngerer Bruder Georg wurden liberal erzogen. Wie Reyle jedoch in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (SZ, 14.4.2006) erklärte: »Ich habe immer versucht, den guten Geschmack, der mir beigebracht wurde, zu negieren.«

Wie rebellisch er als Jugendlicher wirklich war, lässt sich nicht sagen, doch wechselte er in zehn Jahren zehnmal die Schule, gründete noch während seiner Schulzeit eine Punk-Band und schaffte mit Mühe den Realschulabschluss. Eine Lehre zum Landschaftsgärtner brach er nach zwei Jahren ab. Auf den Rat seiner Mutter studierte er ab 1990 Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart und in Karlsruhe, wo er 1997 als Meisterschüler seinen Abschluss machte.

Danach ging es direkt nach Berlin. Der Bezirk Neukölln war Mitte der 1990er-Jahre eher No-go-Area als Place-to-be, als der Mittzwanziger Anselm dort aufschlug, lagen Gentrifizierung und Hipster noch in weiter Ferne. Zusammen mit John Bock, Dieter Detzner, Berta Fischer und Michael Majerus gründete er ein Atelier, von 1999 bis 2001 betrieb er »Andersen’s Wohnung und Montparnasse« gemeinsam mit Thilo Heinzmann, Claus Andersen und Dirk Bell. Dort veranstalteten sie Ausstellungen und knüpften Kontakte.

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Inspirationsquelle war für den Neu-Berliner die raue Umgebung Neuköllns. Viele Geschäfte dekorierten dort ihre Schaufenster mit schillernder Folie, die kaum etwas kostete und faszinierend schimmerte. Mit Objekten aus eben dieser alltäglichen Silberfolie, die Reyle auf Keilrahmen spannte und behauptete, das sei Kunst, wurde er berühmt. Seine »foil paintings« provozierten und polarisierten. Was die einen als billige Effekthascherei abtaten, entzückte andere als bahnbrechende Revolution. 

Im Zentrum seiner künstlerischen Auseinandersetzung steht neben der abstrakten Malerei das »Objet trouvé«, das er mit Materialien aus der urbanen Konsumgesellschaft kombiniert; und so den bildungsbürgerlichen Geschmackskonsens hinterfragt. Mit seinen abstrakten Arbeiten überschreitet er immer wieder bewusst die Grenze zwischen Kunst und Kitsch. Für seine Bilder, Reliefs und Skulpturen kommen Autolacke, Zivilisationsmüll, Bau- und Elektroschrott, Spachtelmasse, Acrylglas, Spiegel und Beton zum Einsatz oder er experimentiert mit LED-Leuchten. Die erfolgsverheißende Folie verwendet er bis heute.

Ebenfalls bis in die Gegenwart wirken seine Streifenbilder nach, die zwischen 2003 und 2013 entstanden sind. Hierfür benutzte Reyle Acrylfarbe, Silberfolie, eingefärbte Spiegel, Strukturpasten und Lacke in teilweise unstimmigen Farbkombinationen. In dieser Zeit wuchs sein Atelier auf eine unglaubliche Größe an, bisweilen beschäftigte Reyle bis zu 50 Assistenten. Wie schon in mittelalterlichen Künstlerwerkstätten konzipierte der Meister nur noch, die Ausführung übernahmen die Mitarbeiter*innen. Im Hinblick auf die Streifenbilder erklärte er: »Es ging mir um Neutralität, Kälte und Distanz. Ich wollte eine gewisse Form der Leere erzeugen und die Arbeit von meinem persönlichen Gestus befreien, um Platz für etwas anderes zu schaffen. Etwas, was ich nicht vorgeben möchte.«

Doch das hohe Tempo, diese Form der Produktion begannen ihn zu langweilen. Es wurde zu einer Art Firmenalltag. Der »PR-Künstler« (Handelsblatt) zog die Reißleine und kehrte 2014 erst mal dem Kunstbetrieb den Rücken zu. »In dieser Pause möchte ich keine Ausstellungen machen und auch nichts mehr zum Verkauf produzieren. In der letzten Zeit kam ich mehr und mehr in die Position, Anfragen zu beantworten, auch um den Betrieb an sich zu finanzieren«, sagt er in einem Interview mit dem Monopol-Magazin, das in der Februar-Ausgabe 2014 erschien:

Er zog sich nicht nur für eine Weile aus dem Ausstellungsbetrieb zurück, er verkleinerte auch sein Atelier. Und er nahm sich Zeit, um wieder öfters in Heilbronn zu sein und alte Freunde zu treffen, wie er damals in einem exklusiven Interview mit dem Heilbronner Magazin Hanix erklärte: »Das war mir persönlich auch ein wichtiges Anliegen. Durch den Kunstmarkt und das Kunstsystem habe ich mich mehr und mehr von den eigenen Wurzeln entfernt. Und ich verspüre ein starkes Bedürfnis, dem wieder mehr nachzugehen und zu entdecken, wo das, was und wer ich bin, alles herkommt.«

Anselm Reyle mag Neonlicht

Die Verbundenheit zu Heilbronn und dem Umland äußert sich bei Reyle nicht nur in seinem weichen Zungenschlag und die Liebe zum Wein sei nach wie vor ausgeprägt bei ihm. Auch seine Naturverbundenheit schreibt seiner Herkunft zu und die nutzte er gemeinsam mit seiner Frau, der Architektin Tanja Lincke bei der Realisierung ihres Eigenheims auf dem Gelände einer ehemaligen DDR-Werft im Südosten Berlins (https://www.ad-magazin.de/article/betonhaus-an-der-spree). 

Bei der Planung stellten die beiden fest, dass sie »ganz gut zusammenarbeiten können und ähnliche Dinge, allerdings aus unterschiedlichen Blickwinkeln, gut finden«. Reyle fügt hinzu: »Da ich, was die Architektur angeht, ein Quereinsteiger bin, gehe ich die Sachen weniger aus dem praktischen Blickwinkel an.« Diese Zusammenarbeit hat sich augenscheinlich gelohnt: Direkt an der Spree, neben der Treptower Wasserschutzpolizei, scheint das Haus auf sechs Pfeilern wie ein Glaskubus zwischen zwei Betonplatten zu schweben, eingebettet in scheinbar unberührte Natur. Die beiden haben sich eine perfekte Stadtrand-Utopie geschaffen, in der sie mit ihren Kindern leben, umgeben von einem – wie Reyle ihn nennt – Ruinengarten.

Anselm Reyle erhebt Alltagsgegenstände unnd -schrott zur Kunst

Hat Reyle, der mittlerweile die 50 überschritten hat, inzwischen Ruhe gefunden? In seinen jüngsten Arbeiten scheint er zu einer echteren Art von Arbeit zurückgekehrt zu sein wie ganz zu Beginn seiner Karriere. Sie sind oftmals gekennzeichnet durch schräge Farbkombinationen und Materialien. Reyle hat sich nie davor gescheut, Kitsch oder Deko einzubeziehen. Heute sind es »Objets trouvés«, denen er eine andere Materialität oder einen anderen Kontext verpasst, sie zu Kunst erhebt. 

Ob das Kunst ist oder wegkann, entscheidet in diesem Fall der Künstler selbst. Manche nennen es Recycling oder Upcycling – in jedem Fall verhilft Reyle vielen Alltagsgegenständen zu künstlerischer Würde. Und da ist er dann wohl doch ein bisschen Schwabe, auch wenn er über sich sagt: »Leider bin ich überhaupt nicht sparsam und mein Ordnungssinn hält sich auch in Grenzen.«