Die Mathekrieger von der Akademie: Wenn Schweine-Würfel und KI den Schulalltag erobern

Von Robert Mucha, Foto: aim

Wie bringt man Kindern bei, dass Mathematik mehr ist als Formeln büffeln? Die Antwort liegt irgendwo zwischen Streichhölzern, künstlicher Intelligenz und der Erkenntnis, dass auch Lehrer manchmal Schüler sein müssen.

Es ist dieser Moment, den jeder kennt, der einmal vor einer Klasse gestanden hat: 30 Augenpaare starren einen an, gelangweilt, teilnahmslos, innerlich bereits beim nächsten TikTok-Video. Draußen scheint die Sonne, drinnen soll es um Bruchrechnung gehen. Ein hoffnungsloser Fall? Nicht für die knapp 30 Lehrkräfte, die trotz Abiturzeit den Weg in die aim Akademie auf dem Bildungscampus gefunden haben.

Sie sind gekommen, um über etwas zu sprechen, das auf den ersten Blick wie ein Widerspruch klingt: Mathematik zum Anfassen, Forschen statt Pauken, KI im Klassenzimmer. Es ist das Netzwerktreffen des Kooperationsprojekts „Mathe.Forscher“ mit der Stiftung Rechnen, und die zentrale Frage lautet: Wie füllt man Mathematikunterricht mit Leben?

Dr. Benedikt Weygandt von der Freien Universität Berlin eröffnet mit einem Gedanken, der wie eine Provokation klingt: „Mathematisch entdecken, denken und argumentieren… sowas kann KI doch nicht – oder noch nicht?“ Ein Satz, der den Ton für einen Tag voller Diskussionen setzen wird, an dessen Ende niemand mehr sicher ist, wo die Maschine aufhört und der Mensch anfängt.

Weylandts Appell an die Runde ist so pragmatisch wie radikal: „KI-Systeme sind dynamisch. Es ist egal, wie viel Ahnung man von KI hat; irgendwann ist man doch überrascht. Wichtig ist, dass wir Haltung aufbauen.“ Und dann der Satz, der wie ein Mantra durch den Tag klingen wird: „Einfach mal ausprobieren – das ist viel sinnvoller, als nur zu lesen, was andere machen. ‚Durch KI fühl ich mich abgehängt‘ sagen Leute, die KI nicht ausprobiert haben.“

Es ist eine Haltung, die symptomatisch ist für eine Generation von Pädagogen, die sich zwischen analoger Erfahrung und digitaler Revolution bewegt. Menschen, die noch mit Overhead-Projektoren angefangen haben und nun vor der Frage stehen, wie sie ChatGPT in den Geometrie-Unterricht integrieren sollen.

Die Best-Practice-Session wird zu einer Art Parade der kreativen Verzweiflung: Mit Streichhölzern die eigene Schule vermessen – wer hätte gedacht, dass ein profaner Gegenstand zum Werkzeug der Erkenntnis werden kann? Schweine-Würfel für die Wahrscheinlichkeitsrechnung – ein Accessoire, das vermutlich keiner der Anwesenden in seinem Referendariat erwartet hätte. Papiere falten zum Bruchrechnen, eine archimedische Kräuterspirale im Schulgarten anlegen, eine „Lange Nacht der Mathematik“ voller Knobeleien veranstalten.

Es sind Beispiele, die auf den ersten Blick wie Spielerei wirken, aber einen ernsten Kern haben: die Erkenntnis, dass Mathematik nicht im Schulbuch wohnt, sondern überall. Man muss nur hinsehen. Eine der Prozessbegleiterinnen bringt es auf den Punkt: „Ich bin sehr beeindruckt von dem, was Sie heute mitgebracht haben, wie Sie alte Ideen weiterentwickelt und neue Ideen umgesetzt haben.“

Am Vormittag geht es dann konkret zur Sache: Prompting, also die Kunst, einer KI die richtigen Fragen zu stellen. Dr. Pauline Struve und Dr. Benedikt Weygandt führen durch einen Workshop, der zeigt, wie künstliche Intelligenz zur Ideengenerierung oder bei der Aufgabenentwicklung eingesetzt werden kann. Am Nachmittag folgt der 3D-Druck – Neuland für viele, und genau deshalb besonders spannend.

Prof. Dr. Andreas Dengel von der Goethe-Universität Frankfurt lädt zum Abschluss zu einem Perspektivwechsel ein: Lehren über, mit und trotz KI. Im anschließenden Fishbowl – einer Diskussionsform, die ihren Namen dem Umstand verdankt, dass die Teilnehmer wie Fische in einem Glas von allen Seiten beobachtet werden können – wird debattiert, wie sich neue Technologien sinnvoll in den Mathematikunterricht integrieren lassen.

Marco Haaf, Geschäftsführer der aim, formuliert einen Appell, der über den Mathematikunterricht hinausweist: „Egal wie man dazu stehen mag, KI ist gekommen, um zu bleiben. In Zukunft wird es Menschen geben, die KI nutzen, und Menschen, die KI bauen. Ich wünsche mir, dass Sie die Kinder unterrichten, die KI auch bauen.“ Es ist ein Satz, der die Tragweite des Projekts verdeutlicht: Es geht nicht nur um besseren Matheunterricht, sondern um die Frage, welche Generation wir heranziehen.

Tanja Holstein-Wirth, geschäftsführende Vorständin der Stiftung Rechnen, bringt es auf eine einfache Formel: „Mit dem Engagement der Lehrkräfte entsteht die Möglichkeit, den Schülerinnen und Schülern Mathematik im Unterricht mit einem neuen und nachhaltigen Zugang zu vermitteln.“ Ein Satz, der in seiner Schlichtheit eine ganze Bildungsphilosophie enthält.

Was in der aim an diesem Frühlingsnachmittag passiert, ist mehr als nur ein Netzwerktreffen. Es ist ein Laboratorium für eine neue Art des Lernens, in der Lehrer zu Forschern werden und Schüler zu Entdeckern. Seit dem Kick-off im vergangenen Jahr entwickeln Lehrkräfte aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen neue Wege, um Mathematikunterricht lebensnah, entdeckend und forschend zu gestalten.

Die Idee dahinter ist so einfach wie revolutionär: Wenn Kinder und Jugendliche Mathematik selbst erforschen, entstehen spannende Projekte und echte Begeisterung. Es ist eine Abkehr von der Vorstellung, dass Lernen ein passiver Vorgang ist, bei dem Wissen von oben nach unten transportiert wird.

Als die Lehrkräfte am Ende des Tages den Bildungscampus verlassen, tragen sie mehr als nur neue Methodiken mit sich. Sie tragen eine veränderte Haltung: die Erkenntnis, dass auch sie, die Vermittler des Wissens, niemals aufhören dürfen zu lernen. In einer Welt, in der künstliche Intelligenz in rasantem Tempo neue Möglichkeiten eröffnet, ist das vielleicht die wichtigste Lektion von allen.

„Wir begleiten die Mathe.Forscher-Lehrerinnen und Lehrer auf ihrem Weg, das entdeckend-forschende Lernen in ihrem Matheunterricht zu integrieren – mit Aktivitäten und Ideen, die den Schülerinnen und Schülern den Alltagsbezug zeigen und Mathe begreifbar machen“, fasst Holstein-Wirth zusammen. Es ist mehr als ein Programm. Es ist eine Bewegung, die in Heilbronn ihren Anfang genommen hat und die zeigt, dass Bildung am besten funktioniert, wenn sie selbst zum Abenteuer wird.

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